Haltet euch nicht selbst für klug… (Römer 12,16b)
Liebe Gemeinde,
eine gehörige Portion Realismus traut uns der Apostel Paulus da zu: „Haltet euch nicht selbst für klug.“ Selbstverständlich ist das nicht. Wie sehr regen wir uns z.B. über einen Verkehrsteilnehmer auf, der zu langsam fährt, oder zu schnell, zu vorsichtig, zu rücksichtslos. Wie oft tadeln wir ein Kind, das neugierig-tollpatschig Kontakt sucht, und dabei Konventionen verletzt. Wie lange liegen wir abends wach und warten darauf, dass der Ehepartner das Gespräch eröffnet, über das was am Tag falsch gelaufen ist - denn der war ja schuld. …
Das Grundproblem: Bei unserem eigenen Denken und Handeln wissen wir genau den Grund, aber den anderen verstehen wir nicht. Und wenn er es anders macht als wir - dann gehen wir schnell davon aus, dass sein Verhalten dumm ist. Denn ich verstehe es ja nicht, und was ich nicht verstehe, kann nicht weit her sein.
Sie merken schon: realistisch ist das nicht. Der andere hat ja genauso Gründe für sein Verhalten. Wir wissen zwar, dass wir selbst nicht das Maß aller Dinge sind, aber trotzdem verhalten wir uns so, als ob wir die einzigen sind, die vernünftig denken, und andere können nur recht haben, wenn wir ihnen auch Recht geben.
...sondern in Demut achte einer den andern höher als sich selbst. (Philipper 2,3b)
Der Apostel rät zu einem produktiven Vorurteil: Der andere könnte recht haben! Höre auf ihn. Achte sein Verhalten. Du kannst nur lernen. Lauf nicht davon, wenn einer dich kritisieren will, es könnte sein, er hat Recht. Was ist der Grund, aus dem dir einer seine Meinung sagen will? In der Regel gibt es diesen Grund, und es wird sich lohnen, ihn herauszufinden.
Haltet euch nicht selbst für klug, sondern in Demut achte einer den anderen höher als sich selbst. Immer mehr fasziniert mich die Lebensweisheit, die in diesen beiden einfachen Sätzen gefasst ist.
Wenn wir uns im Recht fühlen, wenn wir die verachten, von denen wir uns nicht respektiert fühlen; wenn Frauen Männer verachten, wenn Männer Frauen nicht ernst nehmen. Wenn der eine meint, über dem anderen zu stehen, dann bauen wir eine Menschen-Pyramide. Jeder drängt sich nach oben, drückt den anderen hinunter. Und es kommt, wie es kommen muss: immer wieder wird unten einer zerdrückt, immer wieder purzelt einer oben vom Turm. Wie schön wäre es, wenn wir jeder den Anderen höher achteten: Einer hebt den anderen hoch. Jeder achtet auf die, die unten sind.
Ich glaube, es ist deutlich, dass das keine theoretischen Erwägungen sind. Diese beiden kleinen Sätze können die Welt verändern. Die große Politik, unsere Nachbarschaft, unsere Ehen, unsere Familien, unsere Schulen. Wollen wir es tun?
Es grüßt Sie Ihr ehem. Pfarrer Otto Guggemos